Luigi Nonos Prometeo. Archipel der Künste

Venedig vor dem 9. Jh., aus: Élisabeth Crouzet-Pavan, «Sopra le acque salse». Espaces, pouvoir et société à Venise à la fin du Moyen Âge (Rome: École Française de Rome, 1992)
Im Zentrum der letzten Schaffensphase Luigi Nonos steht das monumentale, musikdramatische Werk "Prometeo", das aus einer Zusammenarbeit mit dem philosophischen Schriftsteller Massimo Cacciari, dem Architekten Renzo Piano und dem Maler Emilio Vedova hervorging und 1984 in der säkularisierten Kirche San Lorenzo in Venedig uraufgeführt wurde. Das leitende Denkbild der Kooperation bezog sich unmittelbar auf die Topographie der Lagunenstadt und der ehemaligen Seerepublik: der Archipel, verstanden als eine unauflösliche Verschränkung von Land und Meer, glattem und gekerbtem Raum; als ein pluralisches insulares Territorium, dessen Grenzen nach außen hin offen und tendenziell unbestimmt sind, während die unterscheidende Teilung zwischen Land und Meer, die der einzelnen Insel ihre prägnante, autonome Gestalt gibt, in ihm als eine innere Aufspaltung und Differenz auftritt.

Dieses Denkbild fungierte 1.) als eine Art Scharnier zwischen den jeweiligen Projekten der Mitwirkenden. In Cacciaris Philosophie etwa wird der Archipel zur Figur einer post-marxistischen Staatstheorie, in der das Gemeinmachende von einer irreduziblen inneren Differenz des Gemeinwesens her gedacht wird. Bei Nono bezieht sich das Denkbild ganz direkt auf seine Kompositionstechnik, in der einerseits die innere, insbesondere räumliche Ausdifferenzierung statischer Klangphänomene, andererseits Collagetechniken eine grundlegende Rolle spielen, und Teilung und Spaltung zu Beziehung und Zusammenhalt stiftenden Prinzipien werden – und zwar in der Makro- und Mirkostruktur: der "Prometeo" ist nicht in Akte und Szenen, sondern in "isole" untergliedert.
2.) ist der Archipel auch Denkfigur eines kritischen Rückbezugs auf die künstlerische Tradition der Lagunenstadt. Das Projekt, in dessen verschiedenen Phasen San Marco, die Inseln um den Bacino di San Marco oder auch Schiffe, die den Stadtraum durchqueren sollten, als Aufführungsort vorgesehen waren, entwickelte sich aus einer intensiven Auseinandersetzung nicht nur mit der Musik (insbesondere der mehrchörigen Aufführungspraxis seit dem 16. Jh.), sondern auch mit der Stadtbaukunst, der Architektur und der Malerei Venedigs. Dieser Rückbezug hat eine kritische Pointe, deren Triftigkeit für die Kunstgeschichte Venedigs mit besonderem Akzent auf Malerei und Architektur herausgearbeitet werden soll: Das "archipelagische" Prinzip der Verbindung durch Trennung kann als ein fundamentales ästhetisches Paradigma verstanden werden, das in Venedig in den einzelnen Künsten wie auch für ihr Wechselverhältnis (etwa in Ausstattungsensembles) bestimmend ist. Es wird u. a. zu zeigen sein, weshalb Nono sagen konnte, seine Komposition für den "Prometeo" sei der Versuch, "Tintoretto zu hören"...

Die Studie ist Teil eines größeren Habilitationsprojekts, in dem in einzelnen Fallstudien der Frage nachgegangen wird, wie sich die urbanen Raumstrukturen, das Raumwissen und die alltäglichen Raumpraktiken, wie sie den Bewohnern der Lagunenstadt eigentümlich sind, auf struktureller Ebene in Kunst und Musik Venedigs eingeschrieben haben.